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Magersucht - ein Machtkampf?!
Als Internist und Familientherapeut bzw. FamilienPsychoSomatiker
möchte ich in Erinnerung rufen, dass ich keine Wertungen und keine
Schuldzuweisungen mache!
Meine Aufgabe sehe ich darin, Dinge bzw. Verhaltensweisen die
ich sehe, höre, rieche und schmecke, in Worte zu kleiden und so
den bei mir um Rat Suchenden ein größeres Feld der Wahrnehmung
zu ermöglichen. Es handelt sich um eine Art Sehschule. Ich will
die Erweiterung der Denk-, Gefühls- und Handlungsmöglichkeiten
der Patienten und ihrer Angehörigen.
Mein wissenschaftlicher Hintergrund ist in Abb. 1 dargestellt:
Das bio-psycho-soziale Modell nach George Engel, 1977. Gezeichnet
von Brigitte Kamutzki, anlässlich ihrer psycholog. Diplomarbeit
1991
Ich arbeite nach dem bio-psycho-sozialen Modell von George Engel,
welches er 1977 vorgestellt hat. An der Spitze des Dreiecks haben
wir den Körper und die Schulmedizin mit all ihren Errungenschaften
wie Labor, EKG, Magnetresonanz usw.
Ich selber verdanke mein Leben der Kompetenz eines ausgewiesenen
Herzchirurgen: Ohne sein damals blitzartiges und souveränes Eingreifen
stünde ich nicht hier! Man muss allerdings wissen, daß die wesentlichen
Erfolge der Schulmedizin auf die Fächer der Chirurgie, Zahnheilkunde,
Geburtshilfe und präventiven Hygiene zurückzuführen sind. Meine
geliebte Innere Medizin sieht da nicht so gut aus.
Aus diesem Grunde füge ich nun den Bereich von "Psycho" hinzu.
Hier versuche ich zu eruieren, welche positiven und konstruktiven
Gedanken einen Menschen leiten, aber auch welche angstbesetzten
Vorstellungen den Betreffenden einschüchtern, besser, immer wieder
in eine anhaltende Anspannung versetzen.
Noch manche Jahre nach meinem Abitur träumte ich nachts, ich hätte
es nicht bestanden - und schon ist mein Körper schweißgebadet
aufgewacht. Erst nachdem mir bewusst wurde, dass ich ein Leben
lang von einer ungeheuren Angst, stets zu langsam zu sein getrieben
wurde und ich dann begann diese Angst "niederzutrainieren", geduldiger
mit mir umzugehen, verengten sich meine Herzkranzgefäße nicht
mehr, brauchte ich nicht mehr auf den kardiologischen OP Tisch
zur PTCA (Herzkranzaufdehnung).
Ein anorektisches Mädchen berichtete letzthin, dass sie morgens
beim Aufstehen den Gedanken hatte, es ihrer Mutter wieder nicht
recht zu machen, "und schon war ich wie gelähmt und brachte über
den ganzen Tag nichts mehr zu Wege".
Bei "Psycho" schaue ich somit: Wie kommuniziert ein Mensch mit
sich selber? Wir Menschen haben so zu sagen das Privileg, uns
über angstbesetzte Gedanken selber fertig machen zu können.
Ein Vater über seinen 12- jährigen Sohn, der interessanterweise
eine schwere Neurodermitis ausschließlich an den Händen hatte:
"Was das Arschloch anfasst, ist doch gleich kaputt!"
Eine Anorektikerin: "Gestern lästerte mein Vater wieder über mein
Aussehen (KZ usw.) und schon war es mir nicht mehr möglich, an
diesem Abend auch nur den kleinsten Bissen hinunter zu bekommen.
Gelingt es also im Rahmen einer FamilienPsychoSomatischen Beratung,
den einzelnen Familienmitgliedern aufzuzeigen, wie ein jeder mit
sich selber noch besser als bisher zu kommunizieren vermag, als
auch alle Beteiligte zu befähigen, zweckmäßiger miteinander umzugehen,
so können auf einmal Krankheiten verschwinden, wo die Schulmedizin
bisher doch recht hilflos dastand.
Mit "zweckmäßiger" ist gemeint, angstfreier mit sich selber zu
kommunizieren, als auch sich gegenseitig in der Familie nicht
mehr Ängste einzujagen z. B. durch abwertende Bemerkungen, Schuld-
zuweisungen und "in die Ohnmachtsecke" treiben, usw.
Am ehesten fühle ich mich somit als ein Kommunikationtrainer verstanden.
Nun zum Thema Macht
Abb. 2: Das Machtmodell modifiziert nach Max v. d. Trommel, Niederlande.
Nach Max v. der Trommel, einem niederländischen Familientherapeuten,
kann man Macht unter zwei Aspekten sehen: Links die funtionale,
die zweckmäßige, die "gute" Macht. Hier handelt es sich um eine
Autorität, die führt, d. h., sie empfiehlt, leitet an, man muss
es aber nicht tun! Als Voraussetzung für die Qualifikation zu
einer Autorität postuliere ich, dass diese Person folgende Bedingungen
erfüllt: Kompetenz auf dem Gebiet, welches gerade zur Debatte
steht Verantwortlichkeit, d. h. zu dem stehen, was gesagt und
getan wurde Selbstkritikfähigkeit.
Wertschätzung von Mitmenschen, Zeit haben und Geduld (siehe auch
C. Rogers). Diese Autorität A, in der hier gezeigten Abbildung,
sagt nun dem B:"Mach mal dies und jenes", und B ist
es erlaubt, rückzumelden, "Tut mir gut oder nicht".
(Wir haben ein rückkoppelndes System, Kritik ist nicht nur erlaubt,
sondern sogar erwünscht!) Somit handelt es sich um ein lernfähiges
und damit intelligentes System.
(Die Indianer Nordamerikas z. B. hatten über Jahrhunderte hinweg
jeweils nur so viele Büffel gejagt, dass deren Überleben insgesamt
nie gefährdet war!. Ein kluges Volk!) Dieses Feedbacksystem wird
von gegenseitigem Vertrauen, wenn Sie wollen Liebe, geleitet:
Als Ergebnis für B resultiert Fürsorge, Weiterentwicklung, aber
auch Freiheit, denn B muss nicht tun, was A möchte. A empfiehlt!
Und ein Letztes zur linken Seite dieser Abbildung: Hinter dem
A oben sehen Sie ein schwaches B notiert und unten erkennen Sie
hinter dem B ein schwaches A. Gemeint ist damit, dass immer derjenige
führt, der bei der gerade anstehenden Aufgabenstellung auch eine
Kompetenz hat. Es gilt: sowohl als auch! Mit anderen Worten: Keiner
hat die Wahrheit. Es gelten viele Sehweisen, Wirklichkeiten.
Auf der rechten Seite der Abbildung dagegen haben wir es mit einem
Autoritären A zu tun. Dieser herrscht! D. h. man hat unabdingbar
das zu tun, was er möchte. Im Extremfall zeichnet er sich aus
durch null Kompetenz, Null Verantwortung, Kritikresistenz, Geringschätzung
der Mitmenschen, keine Zeit für dieselben und Ungeduld.
Dieser A schnauzt nun den B an: "Mach dies und jenes und
halte den Mund!!!" Ein dummes System! (Man möge mir diese
Wertung nachsehen.)
In meiner Militärzeit erlebte ich folgende Episode: Wir hatten
einen strapaziösen Nacht-Tempo-Gepäckmarsch hinter uns, kamen
dementsprechend kaputt am Ziel an und da hieß es: Da vorne lauert
der böse Feind. Also zum eigenen Schutze eingraben. Ich schaue
mir das Gelände an und melde dem Oberleutnant: "Ja aber hier
unter der dünnen Grasdecke ist der nackte Fels!" "Eingraben
habe ich gesagt!..."
Nachdem dann einige Spaten zerstört waren, wurde das Eingraben
suspendiert. A fühlt sich auf allen Ebenen kompetent und will
so immer herrschen. Es gilt: "Sieg oder Niederlage!" "Entweder
oder!" In diesem System herrscht Angst, Hass und Verachtung (für
B als auch A!). So weit zu Max von der Trommel.
Nun möchte ich die Erkenntnisse von Horst Petri, Berlin, Jugendpsychiater
und Psychotherapeut in diese Abbildung einbauen: Die Ergebnisse
der Säuglingsforschung zeigen auf, dass sich ein Kleinkind beginnend
ab etwa dem 9. Lebensmonat ganz langsam von seiner Mutter lösen
möchte (dies ist ja auch in etwa die Zeit des Laufenlernens).
Auf Distanz zur Mutter gehen kann aber ein noch hilfloses Kleinkind
nur, wenn eine attraktive Alternative vorhanden ist!
Die Präsenz von Vater ist unabdingbar von Nöten! (Denken Sie doch
bitte einmal darüber nach, wenn Sie nach Neuseeland verreisen
möchten, dass Sie hoch wahrscheinlich leichteren Herzens dorthin
fliegen, wenn sie dort Verwandte, Bekannte haben, als wenn Sie
in jenem Land noch niemanden kennen.)
Ist nun ein Vater nicht da, weil er z. B. als Klinikarzt 50 -
60 Stunden Tagdienst schiebt, hinzu kommen dann noch die Nacht-
und Wochenenddienste!, oder aber er ist da, spielt aber lieber
an seinem PC, oder aber er ist da und brüllt cholerisch, autoritär
rum, so hat das Kind keine Alternative und bleibt der Mutter verhaftet.
Zwei schwerwiegende Folgen resultieren aus dieser vaterlosen Situation:
Das Kind entwickelt der Mutter gegenüber eine tragische Ambivalenz.
Einmal liebt es selbstverständlich seine Mutter weiter, denn die
ist ja die überlebensnotwendige Versorgungsstation, anderseits
beginnt es, die Mutter zu hassen oder zu verachten, denn es möchte
ja weg von ihr und kann nicht.
Ungezählt ist für mich die Schar der Anorektikerinnen, die ihre
Mama abgrundtief hassen und damit als Frau auch sich selber!
Wir haben dann das Thema der offenen Rechnungen: Solange ein Erwachsener
mit seinen Eltern noch nicht hat Frieden schließen, sich versöhnen
können, befindet er sich automatisch in der Opferposition. Und
diese Haltung hat eine Reihe äußerst negativer Konsequenzen für
das Leben des Betreffenden (im Extremfall bis zum Tod!).
Das Kleinkind hat es weiter wie bisher nur mit einem Ansprechpartner,
einer Wirklichkeit zu tun und lernt so nur entweder/-oder. Es
ist von vorne herein im A-B System gefangen. Es lernt nicht zu
verhandeln, es lernt nicht zu kooperieren, es lernt keine Kompromisse
einzugehen! Ich kann ein Lied von dieser unglückseligen Situation
singen: Mein Vater blieb in Russland verschollen. So hatte ich
es nur mit meiner Mutter zu tun und das Ganze dann noch als Ausländer
isoliert in der Schweiz. Somit eine fast reine, idealtypische
psychologische Laborsituation. Über lange Zeit in meinem Leben
war somit das Eingehen eines Kompromisses für mich eine glatte
Niederlage. Sicher keine gute Voraussetzung für eine beide Seiten
befriedigende Partnerschaft!
Zurück zum vaterlosen Kind: Ist nun die Mutter sehr dominant,
so drückt sie ihr Kind in die B Position. Es wird ein gelernter
Untertan.
Ist dagegen die Mutter in ihrem Erziehungsstil inkonsequent, schwach,
lebensunsicher, so avanciert aber auch sofort das Kind in die
Herrscher Position A! Es wird der Boss der Familie.
Am Rande sei Folgendes bemerkt: Früher hatten die Kinder Angst
vor ihren Eltern. Dies war sicherlich nicht in Ordnung!!! Heute
dagegen haben eher die Eltern Angst vor ihren Kindern. Und schon
haben die Jugendlichen das Sagen, was einsehbar auch nicht zweckmäßig
sein kann.
Nach meiner Beobachtung nun befanden und befinden sich alle mir
begegneten magersüchtigen Mädchen in der A Position. Nur, durch
irgendwelche zufälligen Ereignisse, wurde ihnen dieses, ihr Herrschen,
unmöglich gemacht, verloren sie die Kontrolle, standen nicht mehr
im Mittelpunkt. Durch unser gesellschaftlich festgelegtes Bild,
dass Frau schlank zu sein hat, bietet sich nun für eine verhinderte
Herrscherin an, die Emotionen und vor allem das Hungergefühl,
zu beherrschen.
"Hier kann ich siegen und niemand quatscht mir mehr rein", so
die Aussage einer Magersüchtigen. "Außerdem ist Mutti ja etwas
fett, und so kann ich sie locker besiegen!" Ein magersüchtiges
Mädchen wird somit durch die zwei Ängste getrieben:
Wie: Ich darf auf keinen Fall verlieren - daher auch die Kritikresistenz
und das paradoxe Verhalten. Noch ein Beispiel hierzu: Eine 15-jährige
Schülerin, 38 kg, 169 cm erzählte mir Folgendes: "Viele Jahre
war ich die Königin in meiner Klasse. Alle waren mir Untertan.
Wo ich stand, war die Mitte. Irgendwann muss ich es wohl übertrieben
haben und alle wendeten sich gegen mich, d. h. grenzten mich total
aus. Da begann mein Hungern! Und ich darf keine Fehler machen,
ich darf andere nicht enttäuschen, ich darf nicht schuldig sein!
Hier gibt es übrigens Untersuchungen von Julius Kuhl, vor 20 Jahren
am MPI in München geleistet, die aufzeigen, dass Angst - vor Fehler
-, Leute- Lage-Orientierte, wie er sie nennt nach einem Fehlschlag
über längere Zeit gelähmt sind. (Während Menschen die nicht mit
dieser Angst infiziert sind, jetzt erst recht trotzig werden nach
dem Motto, "Das wollen wir doch einmal sehen, ob das nicht hinzukriegen
ist!"
Kehren wir noch einmal zu dem zu Beginn gezeigten Dreieck zurück:
Links unten: "Psycho", d. h. hier geht es um die intra-psychische
Kommunikation, die internen Berater einer Magersüchtigen.
Meiner Erfahrung zu folge muss die Beratung demnach darauf abzielen,
den Anorektikerinnen ihre in den Mandelkernen des Hypothalamus
gespeicherten Ängste bewusst zu machen - bisher haben sie diese
Terroristen durch geschickte Widerstände wie Perfektion - als
Abwehr gegen die Angst, Fehler zu machen - und durch permanentes
Sich-die-Welt-gefügig-zu-machen, siegen, nur die eigene Wirklichkeit
gelten zu lassen, sich vor der Angst zu verlieren geschützt.
Als nächsten Schritt gilt es, diesen jungen Frauen Mut zu machen,
all dies nun zu dürfen, was bisher verboten war. Sie dürfen Fehler
machen, dass es eine wahre Freude ist, und sie dürfen auch einmal
verlieren, die Kontrolle aus der Hand geben.
Den Eltern ist Mut zu machen, ab sofort kein Wort mehr über die
Essensaufnahme zu verlieren. Jeder Gedanke an die Essgewohnheiten
der Tochter kostet ab heute 1.- Euro ins Sparschwein! (Sobald
die Eltern nicht mehr auf die Kalorienaufnahme der Tochter schauen,
hat diese sie auch nicht mehr im Griff!: Der Circulus vitiosus
ist durchbrochen!)
Speziell der bisher ängstlichen und überbehütenden Mutter ist
nahe zu bringen, der Tochter mehr und mehr Eigenverantwortung
zuzugestehen und nicht mehr beleidigt zu sein oder gar mit Liebesentzug
zu reagieren, wenn "ihr Kind" jetzt eigene Lösungen wagt. (Es
darf Fehler machen!) Der Vater ist zu ermutigen, seine bisher
nadelfeinen Sticheleien über den Charakter und das Aussehen seiner
Tochter zu unterlassen. (Häufig leitet den Vater, geboren aus
seiner Kindheit, ein negatives Frauenbild und im Sinne von Doppelbotschaften
neigt er dazu seine Tochter einerseits zu verwöhnen, zu hofieren
und andererseits aber auch wiederum niederzumachen).
Eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen einer solchen
Beratung ist allerdings von Seiten des Therapeuten, dass er sich
nicht als autoritär, sondern als eine liebevolle Autorität zeigt,
die Freiheit zu lässt, geduldig ist und ein hohes Maß an Wertschätzung
verströmt.
Stand: 19.10.2001
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